RWFs Theaterkarriere





Action-Theater

München, 1967

Anfang 1967 gründen Ursula Strätz und ihr Ehemann, Horst Söhnlein, das Action-Theater in einem ehemaligen Kino in der Müllerstraße 12. Die erste Produktion ist Jakob oder der Gehorsam von Eugène Ionesco, die am  8.3.1967 Premiere hat. Nach einem schweren Unfall muss Horst Söhnlein eine längere Zeit im Krankenhaus verbringen. Um den Spielbetrieb aufrecht zu erhalten, fragt Ursula Strätz Peer Raben, den sie wie mehrere andere Gruppenmitglieder vom gemeinsamen Besuch der Schauspielschule Zinner kennt, ob er für eine neue Produktion Regie führen könnte. Raben verlässt sein Wuppertaler Engagement trotz drohender Konventionalstrafe und inszeniert mit dem Action-Theater Antigone. Inspiriert ist er dabei von einem Besuch des Living Theatre, das ebenfalls mit einer Antigone in Europa gastierte.

Eine Mitwirkende der Antigone, Marite Greiselis, die Fassbinder von der Schauspielschule Friedl Leonhardt kennt, lädt ihn in eine Vorstellung ein. Fassbinder, der bisher fast nur die üblichen werkgetreuen Stadt- und Staatstheater-Inszenierungen gesehen hatte, ist überrascht und angetan von dem, was er hier sieht, denn für ihn war es „die erste Begegnung mit so einer Art Intensivtheater, das ... in erster Linie auf so einen ganz direkten Kontakt zwischen der Bühne und dem Publikum ausgerichtet ist.“ 1981 schildert er seinen damaligen tiefen Eindruck: „Hier ... erregte mich das, was auf der Bühne geschah, wie es geschah und was dadurch im Zuschauerraum ausgelöst wurde, eigentlich ganz gegen meinen Willen so konkret, daß es mir fast den Atem raubte. Zwischen den Schauspielern und dem Publikum entstand etwas wie Trance, etwas wie eine kollektive Sehnsucht nach revolutionärer Utopie.“

Fassbinder kommt an diesem Abend mit Peer Raben ins Gespräch, er soll bei dessen nächster Produktion mitwirken. Als sich ein Darsteller in der Antigone verletzt, springt Fassbinder für ihn ein, gegen den Widerstand einiger Gruppenmitglieder. Als Marite Greiselis bei einer Messer-Attacke schwer verletzt wird, erinnert sich Fassbinder an eine Mitschülerin bei Friedl Leonhardt, Hanna Schygulla, und bittet sie einzuspringen.

Bei der nächsten Inszenierung des Action-Theaters, Georg Büchners Leonce und Lena, führt Fassbinder schon in einem Kollektiv mit drei anderen Mitgliedern des Action-Theaters Regie. Seine erste selbständige Regie führt er bei den Verbrechern von Ferdinand Bruckner. Eine Zäsur ist die Inszenierung von Fassbinders Stück Katzelmacher, Fassbinder ist zur zentralen Persönlichkeit des Action-Theaters geworden. Dies freut Horst Söhnlein nicht; als dieser aus dem Krankenhaus entlassen wird, kommt es zu Problemen. Das Action-Theater gastiert zwischenzeitlich am Büchner-Theater, kehrt aber noch einmal in die Müllerstraße zurück. Horst Söhnlein schließt sich den Kaufhaus-Brandstiftern Andreas Baader und Gudrun Ensslin an. Am 6. Juni 1968 wird das Action-Theater vorgeblich aus baupolizeilichen Gründen durch eine  behördliche Verfügung geschlossen.

Die besonderen Merkmale des Action-Theaters waren eine ausgeprägte Körperlichkeit im Spiel, die Einebnung der Rampe – es wurde in einem Raum gespielt, in dem die Bühne sich nur geringfügig vom Zuschauerraum unterschied und sich eine Theke befand -, reduzierte Stilmittel des sog. ‚armen Theaters’, wie Peter Brook es formuliert hat, und die Vermittlung politischer bzw. sozialkritischer Inhalte, oft auf eher assoziativem Wege.


antiteater

München, 1968

Zehn Mitglieder des ehemaligen Action-Theaters gründen im Juli 1968 das antiteater. Auf dem ersten Programmzettel heißt es dazu, es sei „gegründet worden ... zu dem zwecke, vorrangig sozialistisches theater zu machen“.

Zunächst wird in der Akademie der Bildenden Künste gespielt, danach im Büchner-Theater. Hier kommt es zum Eklat, als dessen Besitzer bei der Premiere von Orgie Ubuh das Licht ausschaltet.

Nach kurzer Suche wird die ‚Witwe Bolte’ gefunden, eine Wirtschaft unmittelbar hinter der Universität (Amalienstraße 87), die über einen Hinterraum mit Bühne verfügt. Dies wird die ständige Spielstätte des antiteaters, sofern der Wirt den Raum nicht auch an lukrativere Kunden vermieten kann.

Die Stilmerkmale des Action-Theaters zeichnen auch das antiteater aus, wobei die körperliche Spielweise formeller geregelt wird.

Die von den Münchener Medien vielbeachteten Produktionen des antiteaters (siehe Touchscreen 2) finden schließlich auch überregionales Interesse. Der größte Erfolg ist Die Bettleroper von Fassbinder nach John Gay. Diese Produktion schaut sich auch der Bremer Intendant Kurt Hübner an – ein für Fassbinder äußerst wichtiger Besuch.

Im Herbst 1969 zeigen sich erste Auflösungserscheinungen des antiteaters, speziell das Selbstverständnis als gemeinsam produzierendes Kollektiv versus die Einzelpersönlichkeit, vor allem die Fassbinders als führendem Kopf der Gruppe, erweist sich als problematisch. Dazu Fassbinder: „Damals war es eine Gruppe, heute weiß ich, es war keine. [...] Auch ich habe geglaubt, es ist trotz allem eine Gruppe.“ Es gibt vermehrt Versuche, auch ohne Fassbinder zu produzieren. Dazu sagte er selbst in einem Interview: „Die kollektive Zusammenarbeit des Theaters klappt nicht richtig, weil ich selbst zu viel mache. Ich hoffe, daß die anderen zusammen etwas herstellen, wenn ich nicht da bin. Wenn das klappt, hat unsere Idee einer Theaterkommune sich bewährt.“

Der letzte Versuch, gemeinsam im Kollektiv eine Inszenierung zu erarbeiten, es ist Werwolf, scheitert an gruppendynamischen Problemen, auch wenn es zur Aufführung kommt. Sie findet im Berliner Forum-Theater statt, da die ‚Witwe Bolte’ wegen einer für den Wirt lukrativeren Weihnachtsfeier nicht zur Verfügung steht. Ein letzter Nachklang ist die Gastproduktion in Nürnberg mit Blut am Hals der Katze.

Das antiteater hatte noch ein finanzielles Nachspiel, das speziell Fassbinder belastet hat, es waren Schulden abzubezahlen, die auch verquickt mit Filmkosten waren, da unter dem Namen antiteater (als antiteater-X-Film) auch die ersten Filme von Fassbinder produziert wurden.

Mitgliedern des antiteaters begegnet man aber weiterhin in beinahe allen Theaterproduktionen Fassbinders.



Bremer Theater

Bremen, 1969

Das Theater der Freien Hansestadt Bremen war zu dieser Zeit das innovativste subventionierte Theater in der Bundesrepublik Deutschland. Sein Intendant Kurt Hübner hatte ein enormes Gespür für außerordentliche Talente und wusste sie, zumindest zeitweise, an sich zu binden. Hier inszenierten in den 1960er und frühen 1970er Jahren u.a. Peter Zadek, Peter Stein, Klaus Michael Grüber, Claus Peymann, Hans Neuenfels, und hier spielten Edith Clever, Jutta Lampe, Margit Carstensen, Bruno Ganz und Michael König, um nur einige zu nennen.

In besonderem Maße prägend für die Intendanz Hübner war Peter Zadek in Zusammenarbeit mit Wilfried Minks. Frühlingserwachen, Maß für Maß und Schillers Räuber waren die markantesten gemeinsamen Arbeiten, die den sog. Bremer Stil vorgaben, eine Vokabel, die von Ernst Wendt stammte. Die führende deutsche Theaterzeitschrift ‚Theater heute’ könne getrost umbenannt werden in ‚Bremen heute’ – so ein Bonmot der damaligen Zeit.

Peter Zadek hatte 1967 Bremen den Rücken gekehrt, er inszenierte an verschiedenen Theatern. Hübner versuchte ihn zurück zu locken mit der Bearbeitung eines Stückes von Sean O’Casey, die er an Fassbinder vergab. Zadek kam nicht, und der Bremer Dramaturg Burkhard Mauer einigte sich mit Fassbinder auf die Bearbeitung von Carlo Goldonis Das Kaffeehaus. Zu Proben dieser Bearbeitung reiste Fassbinder mit einem Teil der Gruppe des antiteaters an, mit der er vorher auf der Berlinale seinen ersten Kinofilm Liebe ist kälter als der Tod vorgestellt hatte. Das Ergebnis der Proben missfiel Fassbinder, schließlich einigte man sich mit Hübner, dass Peer Raben und Fassbinder Das Kaffeehaus inszenieren sollten.

Dies war die erste Zusammenarbeit von Fassbinder mit Wilfried Minks, der auch alle weiteren Bremer Fassbinder-Produktionen ausstatten sollte. Fassbinder ließ Minks frei gewähren, und der schuf ihm „ziemlich ausgefallene Bühnenbilder“, wie Minks heute selbst sagt. Pop-Environments waren das, schon Das Kaffeehaus mit seiner Megatorte und dem rosafarbenen Flusenteppich, komplett pink ausgeleuchtet. Der Gipfelpunkt war Bremer Freiheit mit seinem grün schimmernden Kreuz als Spielfläche über einem roten Meer aus Blut und Gekröse, in dem bürgerliches Mobiliar halb schräg versank.

Beide Inszenierungen wurden auch in Fernsehstudios aufgezeichnet, die aber nur im weißen Studio und nicht in den Bühnenbildern von Wilfried Minks produziert wurden. Sie sind im hinteren Saal zu sehen und veranschaulichen die veränderte Spielästhetik, die aus früheren Ansätzen heraus entwickelt war und im Kaffeehaus zum ersten Mal zu Tage trat: eine manierierte Verlangsamung, die Gesten, Posen und Dialoge der agierenden Personen auf eine besondere Art ausstellt.

Im Kaffeehaus war aus dem Bremer Ensemble u.a. Margit Carstensen besetzt, schon bevor Raben und Fassbinder die Regie übernahmen. Hier begann ihre langjährige Zusammenarbeit mit Fassbinder im Theater wie auch im Film. In der Bremer Freiheit spielte Margit Carstensen die Hauptrolle, Fassbinder hat sie für sie geschrieben.

Das innovative Theater war den Bremer Stadtvätern schließlich zuviel, 1973 ließen sie die Intendanz von Kurt Hübner enden.



Theater Bochum

Bochum, 1972

Peter Zadek hatte das Theater der Freien Hansestadt Bremen schon 1967 verlassen, dort ist er nicht mit Fassbinder zusammengetroffen. Zadek hatte sich aber in München schon am Action-Theater Leonce und Lena angesehen, die beiden hatten sich bei dieser Gelegenheit jedoch nicht kennengelernt.

Peter Zadek übernahm zur Spielzeit 1972/73 die Intendanz des Schauspielhauses Bochum, die er bereits 1975 aufgab, bis 1977 blieb er dort aber Mitglied des neu geschaffenen Leitenden Direktoriums. Er eröffnete am 22.9.1972 mit Kleiner Mann, was nun? von Hans Fallada die Saison, am 30.12.1972 folgte Der Kaufmann von Venedig von William Shakespeare. Zu beiden stammte die Musik von Peer Raben, dazu Zadek: „Peer Raben hat mich zuerst interessiert, weil Rainer Werner Fassbinder mich interessiert hat, und zwar zutiefst. Was der gemacht hat, war etwas ganz Großes, wiewohl er ein sehr schwieriger Mann war und wir uns eigentlich nie unterhalten konnten, ohne sofort Krach zu kriegen.“

Zadek erinnerte sich: „Plötzlich war ich Intendant des Bochumer Theaters. Das Fischen nach guten Regisseuren, guten Schauspielern ... begann. (...) Als erstes holte ich Fassbinder.“

Zadeks Freude währte jedoch nicht lang: „Gleich bei unserem ersten Treffen, als die Spielzeit losging, gab es Streit. Rainer hatte mitgekriegt, daß ich Kleiner Mann, was nun? inszenieren würde - großer Aufwand, Musik, Girls, alle meine Stars in großen und kleinen Rollen. Daraufhin entschied er sich, Käthchen von Heilbronn zu machen, mit einem ‚echten Wasserfall’ auf der Bühne. Wichtig war, daß das Fassbinderunternehmen mindestens so teuer wie meins sein mußte. Als diese Krise überwunden war und Rainer sich mit Liliom begnügte, kam schon die nächste.“

Sie galt dem Thema Mitbestimmung, dazu Zadek: „Als ich auf unserer ersten Bochumer Ensemble-Versammlung erklärte, es gäbe gewisse Dinge, zum Beispiel Urlaubsarrangements, über die man Mitbestimmungsregelungen beschließen könnte, grundsätzliche künstlerische Entscheidungen des Theaters aber nicht, stand er [Fassbinder] auf – er hatte sich bewußt unter die ‚Proleten’, d.h. Beleuchter, Bühnenarbeiter etc. gesetzt – und erklärte, alle Anwesenden müßten darauf bestehen, daß Mitbestimmung generell in diesem Theater gelte. Das war die Kriegserklärung gleich zu Anfang, die eigentlich schon bedeutete, daß er gehen mußte. Damit konnte ich mich nicht auseinandersetzen. [...] Das war mir zu anstrengend und auch zu einfach. Zumal er selbst nicht gerade ein Vertreter von Basisdemokratie war.“

Fassbinder zog sich zurück und beendete seine Bochumer Mitarbeit in Form eines kleinen Streichs, wie Zadek berichtet hat: „Rainers Kabarett-Abend, Bibi, nach Heinrich Manns Stück, bestand aus lauter Parodien auf das Theater, auch auf Kleiner Mann, was nun?, auch auf mich. Peter Kern trat als Peter Zadek auf: Sonnenbrille, schwarzes Hemd, einen roten Pullover um die Schultern geworfen... Und dann war er weg. Bibi war seine Abschiedsvorstellung in Bochum, eine Ohrfeige.“

Späße waren zwischen beiden üblich, so nannte damals Fassbinder seinen Hund, den er seiner Assistentin vermachte, Zadek.

Aber 1979 widmete Fassbinder Zadek seinen Spielfilm Die Ehe der Maria Braun und zwei Jahre später gab er ihm eine kleine Gastrolle in seinem Kinofilm Die Sehnsucht der Veronika Voss, in der Zadek Max Ophüls verkörperte, was ihm ein Vergnügen war.



Berlin oder
Hedda Gabler und ihre Umgebung


Berlin 1973

Nachdem die Bremer Stadtväter sich von Kurt Hübner getrennt hatten, übernahm dieser die Intendanz der Berliner Freien Volksbühne zur Spielzeit 1973/74, allerdings bei begrenztem Etat und ohne festes Ensemble. Bei ihm gastierten weiterhin die namhaften Regisseure, mit denen er zuvor in Bremen gearbeitet hatte, jedoch eher sporadisch. Die von ihm einst geförderten Talente waren nun größtenteils selbst etabliert: Peter Zadek, Peter Stein und Claus Peymann waren Intendanten, Klaus Michael Grüber Co-Regisseur von Peter Stein an der Schaubühne in Berlin und Hans Neuenfels wichtigster Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt bei Peter Palitzsch.

Fassbinder hatte sich nach seinem Weggang von Bochum ganz dem Film zugewandt, er arbeitete 1972/73 an einem Lieblingsprojekt, der Verfilmung von Theodor Fontanes Effi Briest, die durch eine einjährige Drehpause behindert wurde. Parallel hierzu entstanden Filme verwandter Frauengestalten: Martha, eine aktualisierte Form der Effi Briest, und Nora Helmer, eine Fernsehaufzeichnung des Stückes von Henrik Ibsen, das Fassbinder nie für das Theater inszeniert hat. Als Hübner ihn kontaktierte, schlug Fassbinder ihm über die Hedda Gabler hinaus gleich mehrere Projekte vor: „Außerdem wäre ich durchaus bereit, ‚Warnung vor einer heiligen Nutte’ zu dramatisieren oder aber irgendein anderes neues Stück für Sie zu schreiben. Meine grundsätzliche Bedingung hierfür aber ist mein Wunsch, gegen Ende der Spielzeit ‚Othello’ zu inszenieren.“

Fassbinder inszenierte schließlich nur Hedda Gabler von Henrik Ibsen, die sich nahtlos in seine Beschäftigungen mit den Frauen in der Auseinandersetzung mit ihren Emanzipationsmöglichkeiten im ausgehenden 19. Jahrhundert einfügte, die ihn 1972/73 intensiv beschäftigten. Er zeigt diese Frauen in den Gefängnissen schöner Häuser, mit denen sie geradezu deckungsgleich werden können wie Martha, deren Blumenmotiv auf dem Kleid optisch verschmilzt mit dem kunstvollen Dekor des Fenstergitters hinter ihr. Die Ästhetik des Jugendstils, jener Stilepoche, zu der die Blumenkinder der Hippiegeneration einen spezifischen Zugang hatten, prägt die Inszenierungen dieser ‚schönen Gefängnisse’.



Frankfurt: Schauspielhaus und TAT

Frankfurt am Main, 1974

Fassbinder war in Frankfurt kein Unbekannter, als der dortige Kultursenator Hilmar Hoffmann auf die Idee verfiel, ihm die Intendanz des maroden TAT anzubieten, an dem ein Mitbestimmungsmodell praktiziert wurde, was zu erheblichen Problemen geführt hatte. Die Uraufführung von Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant hatte im Rahmen der experimenta, einem innovativen Theaterfestival, 1972 am selben Theater stattgefunden. Wenn auch die Kritik mit der Melodramatik sich nicht recht anfreunden konnte, so war doch Fassbinder mit seiner Schauspielergruppe hier aufgefallen. Zudem war er zu dieser Zeit bereits ein bekannter Filmemacher, was ihn als Gallionsfigur für Hilmar Hoffmann tauglich erscheinen ließ. Und Fassbinder konnte noch einmal seine Schauspieler um sich scharen, so stieß beispielsweise aus frühen Tagen die Gründerin des Action-Theaters, Ursula Strätz, wieder zu der Gruppe um Fassbinder.

Das von den Vorgängern Fassbinders etablierte Modell eines Theaters als „selbstbestimmter Betrieb“, das in endlosen Diskussionen und Selbstzerfleischungen geendet hatte, verhieß für Fassbinder und seine Gruppe doch die Möglichkeit, am Theater das Prinzip des kollektiven Arbeitens noch einmal zu erproben. Entsprechend euphorisch war die Arbeitsaufnahme. Festgehalten ist dies in einem Protokoll eines Planungstreffens ein gutes halbes Jahr vor Spielzeitbeginn. Man hoffte, das TAT zu einem autonomen Theater zu machen, aus dessen Reihen Talente hervorgehen und gefördert werden sollten, so Fassbinder rückblickend im November 1974. Auch Karlheinz Braun, der Geschäftsführer des in Frankfurt ansässigen Verlags der Autoren, wo Fassbinders Stückerechte noch heute vertreten werden, meinte dazu: „Das Ganze begann mit einem unglaublichen Elan, das dampfte sozusagen vor lauter Energie und Begeisterung.“ Und mit dem Mitbestimmungsmodell seiner Vorgänger hat er „es wirklich ganz ehrlich gemeint“.

Nach Unterzeichnung des Vertrages und vor Beginn der Intendanz am TAT inszenierte Fassbinder am Schauspiel Frankfurt noch ein Stück von Peter Handke, was in dieser Stadt entsprechend große Beachtung fand.

Gestartet wurde Fassbinders Intendanz am TAT mit einer Adaption des Romans Germinal von Emile Zola, einer personenstarken Inszenierung, so dass beim Schlussapplaus beinahe das gesamte Ensemble gemeinsam auf der Bühne stand.

Doch die Utopie des kollektiven Miteinanders wurde eingeholt von den Alltagswelten der Theaterarbeit, von den menschlichen Unzulänglichkeiten, den theaterimmanenten Eitelkeiten. Die Inszenierung von Strindbergs Fräulein Julie mit Fassbinder in der männlichen Hauptrolle wurde zu einem Kulminationspunkt. Die Regisseurin Ula Stöckl wurde ersetzt durch Gottfried John als Spielleiter, der wiederum auf Ensemblebeschluss kurz vor der Premiere die Regie an Ula Stöckl zurückgeben musste und „Zusehverbot“ für die restlichen Proben erhielt. Gottfried John: „Es war Wahnsinn um mich rum. Gleichzeitig war es sehr spannend...“
Vermehrt kam es zwischen den alten Ensemblemitgliedern des TAT, einem dort angesiedelten Kinder- und Jugendtheater und der Fassbinder-Gruppe zu Kämpfen, die laut Ursula Strätz kaum auszuhalten waren.

Kurt Raab, als Ensemblemitglied in das Direktorium gewählt, Fassbinder und dessen Lebensgefährte entflohen dem Ganzen kurzfristig auf die Bahamas, von wo sie dem TAT-Ensemble ironische Postkarten schickten. Die zunehmende Abwesenheit von Fassbinder sorgte erneut für schlechte Stimmung, auch in der städtischen Verwaltung.

Zu den internen Querelen kamen finanzielle Probleme mit den Frankfurter Stadtvätern, die mit einer Person ebenfalls im Direktorium des TAT vertreten waren. Während der Proben zu Müll Stadt Tod eskalierte die Situation, Fassbinder kündigte und nahezu die komplette Gruppe um ihn schied aus.

Einen Nachklang auf die TAT-Zeit enthält ein Telegramm von Fassbinder an Peter Palitzsch, dem Intendanten des Schauspiels Frankfurt, wo von ihm nach wie vor ein Mitbestimmungsmodell praktiziert wurde – mittlerweile das einzige in Deutschland. Fassbinder schrieb ihm „in der Hoffnung, daß Du an der, wie ich auch glaube, an sich wunderschönen Idee des mit anderen Menschen gemeinsamen Arbeitens, was man modisch Mitbestimmung nennt und das in der Praxis, wie Du ganz sicher in den letzten Jahren auch erfahren hast, ausgeführt mit Menschen, die zu einer anderen Form zu leben erzogen wurden, so unfaßlich grausam sein kann, nicht verzweifeln mögest.“ (10.9.1978)




Epilog

Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, Tournee deutschsprachige Länder, 1975 - 1981

Noch am TAT hatte Fassbinder sein sog. Frankfurt-Stück Müll Stadt Tod geprobt, was durch seine Kündigung nicht mehr realisiert wurde. Während dieser Proben erschien ein Artikel in der ‚Frankfurter Rundschau’, in dem bemerkt wurde, am TAT werde eine Produktion mit antisemitischer Tendenz vorbereitet.

1976 veröffentlichte dann der Suhrkamp Verlag den ‚Band 3’ der Stücke von Fassbinder, darunter Müll Stadt Tod, es kam zum Skandal, der Vorwurf des Antisemitismus wurde so heftig vorgetragen, dass der Verlag das Buch vom Markt nahm. Fassbinder hatte eine Stellungnahme verfasst, die der Verleger nur gekürzt an die Presse weitergab.

Der unglückselige Skandal um Müll Stadt Tod ließ Fassbinder nicht endgültig ruhen. 1978 wollte er das Stück in einer ganz eigenen Verbindung herausbringen: Gemeinsam mit Shakespeares Othello in der Regie von Peter Palitzsch mit ihm als Jago, im selben Bühnenbild von Herbert Kapplmüller gespielt. Eine Innenraum-Verpackung, wie sie auch Christo gestaltet hat, sollte den gesamten Theaterraum – Bühne und Zuschauerraum – zu einer Einheit verschmelzen. „Tatort“ war das gemeinsame Schlüsselwort für die Bühne, auf der beide Stücke gespielt werden sollten. Die Begründungen, weshalb Fassbinder nach kurzer Probenzeit für Othello ausstieg, reichen von Besetzungsquerelen bis zur unterschiedlichen Auffassung des Jago. Schließlich kam Othello allein und ohne Fassbinders Mitwirkung am 19.11.1978 auf die Bühne des Schauspiels Frankfurt.

Ivan Nagel, der Fassbinder schon aus der Zeit des antiteaters kannte – er war von 1968 bis 1971 Theaterkritiker bei der ‚Süddeutschen Zeitung’ -, rief Fassbinder 1976 zu Hilfe, um die Frauen in New York an seinem Deutschen Schauspielhaus realisieren zu helfen, es war Fassbinders letzte Inszenierung am Theater.

Davor schon ließ sich Fassbinder für Tourneetheater interessieren, die soziale Komponente einer solchen Unternehmung sprach ihn an. Der Tournee-Unternehmer Eynar Grabowsky berichtet, Fassbinder habe im Gespräch mit ihm gemeint: „Ja, das sei eine gute Idee. Tournee-Theater erfülle eine kulturpolitische Aufgabe. Theater solle nicht nur in den Zentren eines Landes stattfinden, sondern auch in kleineren und kleinsten Städten.“

Theaterprojekte beschäftigten Fassbinder bis zu seinem Tod. Eine Tournee-Inszenierung von Tennessee Williams’ Endstation Sehnsucht mit Elisabeth Volkmann und Barbara Valentin war im Gespräch. Konkretere Pläne gab es bereits zu Wer hat Angst vor Virginia Woolf von Edward Albee mit Rosel Zech in der Hauptrolle, mit der auch eine Inszenierung von Frank Wedekinds Musik angedacht war. Auch hat Fassbinder an einem Stück für Margit Carstensen gearbeitet, Fedra, basierend auf Jean Racines Phèdre. Über eine Operette dachte er gelegentlich nach (Giuditta von Franz Lehar im ‚Theater des Westens’). Und eine Oper hätte er gern inszeniert, am liebsten La Traviata...

Fassbinders primäres Interesse in seinen letzten Jahren galt jedoch dem Film. Einmal aber führte er beide Medien noch zusammen: 1981 drehte er einen Dokumentarfilm über das von Ivan Nagel initiierte Festival ‚Theater der Welt’ in Köln, wo viele Freie Gruppen gastierten und auf unkonventionelle Art mit dem Publikum in Kontakt traten. Den Film nannte Fassbinder Theater in Trance – noch einmal in Trance, wie damals im Action-Theater, bei der Antigone.